Seitdem es eine Flüchtlingskrise in Europa gibt, wird in Deutschland wieder über die Leitkultur gesprochen. Ursprünglich wurde diese Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern der multikulturellen Gesellschaft geführt, doch nunmehr sind Stimmen aus fast allen Parteien zu hören, die den Begriff benutzen, um zu einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl aufzurufen und die Flüchtlinge an ihre Pflicht zur Integration zu erinnern.
Eine andere Frage ist, ob Parteien dazu bereit sind, den Begriff der Leitkultur „offiziell“ zu vertreten, das heißt auf ihrer Webseite zu verteidigen. Eine Übersicht der Parteien der Großen Koalition zeigt folgendes Bild:
Die CDU spricht in einem „Pflichtprogramm zur Integration“ von einer Leitkultur, ohne sie genauer zu definieren: CDU
Die CSU spricht ausdrücklich von einer christlich-jüdisch-abendländischen Leitkultur und lehnt die multikulturelle Gesellschaft ab: CSU
Die SPD spricht auf ihrer Webseite nicht über das Thema Leitkultur, während Thomas Oppermann von der Bundestagsfraktion den Begriff ablehnt: SPD-Fraktion. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass Raed Saleh von der Berliner SPD-Fraktion bereits im Oktober 2015 von der Notwendigkeit einer neuen Leitkultur gesprochen hat: Raed Saleh
Weder die CDU noch die SPD greifen auf Normvorstellungen der alten Leitkulturdebatte zurück, in der es darum ging, eine Modernisierung der Integrationspolitik und des Einbürgerungsrechts abzulehnen.
Die Zeitschrift Cicero widmet ihre Dezember-Ausgabe (2015) dem Thema Leitkultur, leider sind nur drei Beiträge in der Online-Fassung zugänglich (Gesine Schwan, Peter Tauber und Lamya Kaddor.)
Problematik
Der heute diskutierte Begriff der Leitkultur hat nichts mehr mit dem von Bassam Tibi in Anlehnung an Jürgen Habermas ins Spiel gebrachten Konzept zu tun. Im Grunde geht es um zwei verschiedene Ideen:
Universelle und partikulare Werte
Im Gegensatz zu Werten, die potentiell auf eine unendlich große Gemeinschaft angewandt werden können, seien bestimmte Werte charakteristisch für eine nationale Gemeinschaft, hier also für die in Deutschland lebende Bevölkerung. Nach Ansicht der Verfechter einer Leitkultur reicht es nicht aus, universelle Werte zu respektieren, weil in diesem Fall die Besonderheit der Lebensweise in Deutschland nicht berücksichtigt wird.
Tatsachen und Normen
Auf den ersten Blick kann der Beobachter den Eindruck gewinnen, dass mit dem Begriff der Leitkultur eine Tatsache beschrieben wird, nämlich eine in Deutschland herrschende Lebensweise. Das Wort „Kultur“ scheint darauf hinzuweisen. Allerdings fordern die Befürworter der Leitkultur, dass Einwanderer diese respektieren; es geht hier also nicht um Tatsachen, sondern um Normen. Normen werden normalerweise durch Sanktionen durchgesetzt.
Problematisch sind Normen nicht, solange sie auf universellen Werten beruhen. Es ist selbstverständlich, dass alle in Deutschland lebenden Einwohner die Rechte und Pflichten des Grundgesetzes respektieren. Wenn Normen jedoch die besondere Lebensweise in Deutschland schützen sollen, bedeutet dies, dass Menschen bestraft werden, sobald sie eine andere Lebensweise haben, auch wenn sie die Grundrechte respektieren. Dies wäre paradoxerweise ein Eingriff in vom Grundgesetz gewährleistete Freiheiten.
In der ursprünglichen, von Bassam Tibi 1998 vertretenen Form bedeutet „Leitkultur“ eine Verständigung über die Gültigkeit universeller Werte, zu denen vor allem der Vorrang von Rechten gegenüber religiösen Regeln zählt. In diesem Sinne kann „Leitkultur“ integrativ wirken, weil auch Deutsche ihre spezifische Lebensweise universellen Regeln unterordnen.